Dienstag, 11. Dezember 2018

Aug in Aug: Klassenkampf im Schatten der Bewusstlosigkeit

Ein Kommentar von Susan Bonath.
Eigentlich wollte ich über die CDU schreiben. Doch wen interessiert es schon, dass und wie Annegret Kramp-Karrenbauer, kurz AKK, sich dort den Vorsitz gesichert hat, Friedrich Merz sich bis zur fetten Pension weiterhin von der Finanzwirtschaft mästen lässt und Jens Spahn – das ist der mit dem wirren Blick und den abstoßenden Sprüchen – als Gesundheitsminister absahnt. Ein Blick nach Frankreich ist interessanter. Die Bilder sprechen für sich: Sie zeigen den realen Klassenkampf.

Auf dem Boulevard Champs Elysees in Paris, aber auch in anderen französischen Städten, stehen sie sich Aug in Aug gegenüber: Das unterdrückte Volk und die Front der Reichen. Nur sind die Reichen wie gewohnt nicht da. Sie sitzen in ihren Palästen. Eine schwer bewaffnete Polizei rückt in ihrem Auftrag vor. Mit Gummi-Geschossen und Tränengas-Granaten ballert sie in die Menge. Scharfschützen zielen von den Dächern auf die Massen. Die Bourgeoisie hat ihre Besitztümer verrammelt und vernagelt.

In Frankreich ist manches anders als in Deutschland. Die Arbeiter scheinen ihr Klassenbewusstsein in den mehr als 200 Jahre seit der Revolution nicht ganz verloren zu haben. Zumindest scheint es sich in Teilen Bahn zu brechen, nachdem sich der Funke diesmal an den Spritpreisen entzündet hatte. Höhere Steuern abpressen von den kleinen Leuten – das ist in Frankreich nicht einfach zu machen. Das Muster ist bekannt: Jeder Sozialabbau führt zu Ausschreitungen. Je nach der Schwere dieser rudert die Regierung zurück.
Die „Gelbwesten“ waren einfach da. Die relativ starke Rechtsaußenfront um Marine Le Pen ruft genauso dazu auf, wie die längst auch in Frankreich weitaus schwächeren Sozialisten und Kommunisten. Ein Forderungskatalog der „Gelbwesten“ trägt eine klassisch sozialdemokratische Note. Erster Punkt: Obdachlosigkeit beenden – dringend. Gefolgt von weniger Steuern für Geringverdiener. Gefordert wird ein höherer Mindestlohn, mehr Sozialhilfe, eine Mindestrente. Reichtum solle begrenzt werden, alle Arbeiter sollen mehr Rechte und Zugang zu Bildung bekommen. Der Staat solle Fluchtursachen beseitigen und mit Asylbewerbern „korrekt umgehen“, und so weiter. Ein rechtsradikales Programm sähe anders aus. Bauern und Schüler, Studierende und sogar eine kleine Gewerkschaft der Zivilangestellten der Polizei solidarisierten sich mit den Demonstranten. Manche reden schon von Revolution.
Das konservative Politmagazin Cicero warnte so auch bereits vor dem vergangenen Wochenende: Der „gelbe Protest“ werde „immer roter“! Klar doch, wo Menschen aller Hautfarben und Nationalitäten für gemeinsame Ziele gegen die Herrschenden demonstrieren, geht das braun unter. Im Deutschlandfunk erklärte der viel zitierte französische Politologe Henri Ménudier: Die Gelbwesten seien für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron deshalb gefährlich, weil sie so unorganisiert sei. „Es gibt keine Struktur, keine Leitung“, so Ménudier. Die Bewegung sei dennoch so mächtig, dass man auf sie reagieren müsse.
Diese Wirrnis, welche die Herrschenden ins Wanken bringt, ist jedoch zugleich die Schwäche dieser und vieler anderer spontaner Bewegungen. Denn alles dauerhaft Unorganisierte wird sich an Widersprüchen zerreiben und letztlich an der bewaffneten Staatsmacht zerbrechen. Hinzu kommt: Die sozialdemokratische Agenda rüttelt eben nicht an den grundlegenden Machtverhältnissen. Zudem ist weiter offen, ob Le Pens Partei Rassemblement National – zu deutsch: Nationale Sammlung; ehemals Front National – doch noch mehr Oberwasser gewinnt. Wo ethnische Spaltung beginnt, endet die Wirkmächtigkeit der Unterdrückten.
In der Tat: Rechtsaußen-Parteien versuchen alles, um die Revolte zu vereinnahmen. Das ist nicht neu. Seit vielen Jahren punkten sie mit einer „Anti-Establishment-Agenda“ – in Frankreich ähnlich wie in Deutschland. Um an die Macht zu gelangen, braucht es Wählerstimmen. Man muss die Emotionen der Zeit treffen.
Faul ist dies schon deshalb, weil die Rechte real nicht nur auf Rassenhass statt Klassenkampf setzt. Ihre gesamte Agenda hier wie da läuft schlicht auf den Ersatz der neoliberal ausgerichteten durch eine autoritäre Regierung hinaus. Während sie von Volksentscheiden faselt, will sie an den Eigentums- und damit auch an den Machtverhältnissen nichts ändern. Darum paktieren weite Teile des Staats so gern mit ihr.
Auch in Deutschland liefert die Rechte ein entsprechendes Schauspiel. In Stuttgart versuchte der AfD-Landtagsabgeordnete Stefan Räpple, an den Gelbwesten-Protest in Frankreich anzuknüpfen. Laut Polizei waren ihm etwa 75 Leute gefolgt, um unter diesem Label nicht etwa gegen Sozialabbau in Deutschland, sondern einzig „gegen den Migrationspakt“ zu demonstrieren. Und mancher deutsche Arbeitssklave glaubt tatsächlich, das wäre seine Rettung. In dieser Hinsicht sind viele französische Arbeiter schon etwas weiter.
Nebenbei: Man erinnert sich, wie die Rechtsaußenfront vor nicht allzu langer Zeit hysterisch brüllte: „Linksextreme Steinewerfer legen das schöne Hamburg in Schutt und Asche!“ Jedem Prügelpolizisten jubelte man zu. Dabei waren die Demos gegen G20 ein Sonntagsspaziergang im Vergleich mit Frankreich.
Nun, derlei Versuche von Rechtsaußen, spontane unorganisierte Bewegungen zu vereinnahmen, kennt man. Ein Beispiel dafür sind die Mahnwachen für Frieden in zahlreichen deutschen Städten: Kaum standen Anfang 2014 mehr als 1.000 Menschen in Berlin auf der Straße, waren Jürgen Elsässers Gehilfen dort, um dessen zum Werbeblatt für die AfD verkommenes Compact- Heftchen zu vermarkten. Der Oberguru der Reichsbürgerbewegung, Peter Fitzek, gab sich persönlich ein Stelldichein. NPD- und AfD-Politiker drängten zahlreich auf die Redebühnen.
Zur Freude des Establishments hatten sie hier und da tatsächlich leichtes Spiel: Die Presse schlachtete es aus, diskreditierte die politisch unerfahrene Masse insgesamt als „Nazis“, „Spinner“ oder „Verschwörungstheoretiker“. Natürlich folgt dann immer die Trotzreaktion, weiß man doch. Eine verbürgerlichte Linke, die sich längst von den Abgehängten verabschiedet hat, präsentierte sich dabei nicht zum ersten Mal als Teil des Problems: Sie ätzte großteils gnadenlos mit.
Doch auch jener Teil der Linken, der damals nicht ätzte, und sich als besonders links verkauft, erstickt in sozialdemokratischem Verrücktheits-Realismus. Man fabuliert von einer „Politik der kleinen Schritte“, mit der man erst einmal den Zustand der alten BRD in den 60er Jahren wiederherstellen müsse. Mal abgesehen davon, dass dieser dabei völlig verklärt wird: Es gibt in der Geschichte kein Zurück. Die ökonomischen und ökologischen Bedingungen, auf deren Basis nur gekämpft werden kann, haben sich weiterentwickelt.
An diesen unter dem Vorwand von „Realismus“ festzuhalten, ist nun einmal verdrückt. Denn die gesamte Menschheit steht aktuell vor einem bedrohlichen Kollaps. Daran sind bedauerlicherweise keine Migranten schuld, sondern ein auf stetem Wachstum fußendes Wirtschaftssystem.  Letzteres wird zum exponentiellen Wachsen verdammt sein, solange die konkurrenten Eigentumsverhältnisse zu Maximalprofit zwingen. Dass dies auf einem begrenzten Erdball unmöglich ist, sollte auch dem Unpolitischsten einleuchten. Gesagt sei auch: Ökologische Katastrophen scheren sich einen Dreck um nationale Grenzen.
Zurück nach Frankreich, wo dieser Tage das einfache Volk den gewalttätigen Klassenkampf von oben mit Gewalt beantwortet: Wie eine Revolte ausgeht, ob diese zu einer ernst zu nehmenden Revolution werden könnte, die möglicherweise sogar über die Grenzen schwappt, kann man zu Beginn einer Bewegung niemals vorhersagen. Man kann erst hinter wissen, wozu es gut war. Reformen innerhalb des globalen Systems können zwar dem einen oder anderen Verbesserungen bringen, sind aber alles andere als eine Revolution.
Doch es bleibt die Hoffnung. Denn Menschen lernen in Bewegungen. Wer im Kampf für elementare Rechte einmal selbst gemeinsam mit Gleichgesinnten verschiedener Ethnien und Herkunftsländer der geballten Staatsmacht gegenübersteht, und nicht weiß, ob er heil davon kommen wird, bekommt zumindest eine Ahnung von den realen Klassenverhältnissen. Lernprozesse beeinflussen Bewegungen.
Solange die unterdrückte Klasse noch irgendwo aufbegehrt gegen die Arroganz der bis an die Zähne bewaffneten Knüppelgarde ihrer Unterdrücker, bleibt die Hoffnung eine treibende Kraft. Es lohnt sich, für eine Welt der Kooperation zu kämpfen, ohne Sklaven und Herren, ohne Kriegstreiber und ihre Millionen Opfer, ohne Elend und Gier. Damit verbunden ist auch die Hoffnung darauf, dass sich die opportunen Exekutivorgane, also Polizei und Militär, darauf besinnen werden, dass auch sie nur gekauft sind. Dass sie, an ihren Privilegien klammernd, im Auftrag ihrer Herren gegen ihre eigene Klasse vorgehen.
Wenn sie die Waffen niederlegen und sich weigern, auf ihresgleichen einzuschlagen; wenn das Bewusstsein darüber, dass die wirkliche Barrikade international zwischen oben und unten verläuft, die einschläfernde Bewusstlosigkeit verbannt, erst dann wird die Herrschaft der selbsternannten Eliten, der Profiteure und kriminellen Abzocker, der Sklaventreiber und Wertpapierverkäufer zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Denn heute wie gestern basiert jede Form gesellschaftlicher Unterdrückung primär auf Waffengewalt.
Erst dann steht der Weg offen für eine ökologische Umkehr, für planetaren Frieden und ein soziales Miteinander, ja für die Rettung der Erde und der menschlichen Spezies. Wir vergessen immer gerne, dass auch Gewalt in den unteren Schichten niemals unabhängig von den gewaltsamen Verhältnissen in Erscheinung tritt. Es ist zu hoffen, dass spätere Generationen eines Tages auf eine siegreiche Revolution im 21. Jahrhundert zurückblicken können, statt im Abgrund der Folgen von Wahnsinn und Bewusstlosigkeit zu versinken. – In diesem Sinne: Vive la révolution!
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