Necmettin Erbakan hat den türkischen Islamismus erfunden
und war Mentor von Premier Recep Tayyip Erdogan. Nun rechnet er mit ihm
ab. Von Boris Kálnoky
Foto: dpa
Im Jahr 1969 gründete
Necmettin Erbakan die Bewegung "Milli Görüs" (Nationale Sicht"). Ziel
war eine Islamisierung der türkischen Gesellschaft, ausgehend von einer
Islamisierung der Wirtschaft "von unten nach oben". Der Erfolg war
seither spektakulär – Erbakan wurde 1997 Ministerpräsident, wurde aber
vom Militär zum Rücktritt genötigt. Doch seine Thesen und Methoden waren
Wegbereiter für die gegenwärtige AKP-Regierung. Deren Führer,
Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und Präsident Abdullah Gül starteten
als Erbakans Zöglinge ins politische Leben, sagten sich aber später von
ihm los. Nun sieht der 84 Jahre alte Fundamentalistenführer die Zeit
gekommen, Erdogan von der Macht zu verdrängen, um wieder selbst zu
regieren.
WELT ONLINE:
Hodscha, 1997 waren Sie Ministerpräsident, aber Ihre Partei wurde wegen
islamistischer Umtriebe verboten. Damals waren Ihre Wegbegleiter
Erdogan und Gül. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass der eine
später Ministerpräsident wird und der andere Staatschef?
Necmettin Erbakan:
Ja. Ich wusste es, denn nicht ihre Leistungen haben sie dorthin gebracht. Andere Kräfte haben sie auf diese Positionen gesetzt.
WELT ONLINE: Welche Kräfte?
WELT ONLINE: Welche Kräfte?
Erbakan:
Die Kräfte der gegenwärtigen Weltordnung, des rassistischen, zionistischen Imperialismus, der die Menschen zu Sklaven macht.
WELT ONLINE:
Erdogan ist ein Helfer Israels? Er schimpft doch immer gegen Tel Aviv.
Erbakan:
Ein unbewusster Helfer der westlichen, zionistischen Weltordnung. Aber ein Helfer.
WELT ONLINE:
Ich dachte immer, Sie wären sein Wegbereiter gewesen, nicht der Westen.
Ohne Erbakan kein Erdogan. Sie waren sein politischer Ziehvater.
Erbakan:
Es stimmt, er war mein Schüler, und ich habe ihm gesagt, was er tun
soll. Er hat es aber nicht getan, und nun ist es an der Zeit für ihn,
zur Seite zu treten oder seine Politik zu ändern.
WELT ONLINE:
Eine Kampfansage an Erdogan also. Wo liegen denn seine Fehler?
Erbakan:
Er hat einiges richtig gemacht. Kürzlich erschien, zum ersten Mal, die
Frau des Staatspräsidenten mit Kopftuch zum Nationalfeiertag. Aber das
meiste ist falsch – er will in die EU, die ist aber ein Glied der
zionistischen Weltordnung. Gott sei Dank nimmt uns die EU nicht auf. Er
vertritt auch die kapitalistische, zionistische Wirtschaftsordnung, die
Steuern setzt und Schulden macht um das Geld, über die Zinsen, den
Zionisten zu geben. Erdogan ist ein Kassierer des Zionismus geworden.
Von ihrer Gründung 1923 bis vor acht Jahren hat die Türkei 82 Milliarden
Dollar Schulden gemacht. Erdogan in nur acht Jahren 580 Milliarden.
WELT ONLINE:
Und das Volk wird Ihnen diese Argumentation abnehmen?
Erbakan:
Wir sind das Volk, deswegen verändern wir die Türkei. Wir vertreten dessen wahre Werte und Gefühle.
WELT ONLINE:
Sie wollen also Ihren einstigen Zögling stürzen?
Erbakan:
Ja. Das ist unser Ziel. Der legendäre Ministerpräsident kehrt zurück.
WELT ONLINE:
Also Sie selbst. Mit ihren 84 Jahren haben Sie ja gerade gezeigt, dass
Sie noch Herr sind im eigenen Hause sind, in Ihrer Saadet-Partei also.
Sie haben Möchtegern-Reformer Kurtulus von der Parteispitze verdrängt
und selbst wieder das Heft in die Hand genommen. Aber eine Mehrheit im
Volk?
Erbakan:
Wir werden nächstes Jahr die Wahlen gewinnen. In der Entwicklung
unserer Zustimmungsquoten gab es Phasen, in denen CIA, Militär und
Zionisten unsere Werte nach unten drückten. Aber wir sind nun wieder bei
15 Prozent und es wird weiter steigen.
WELT ONLINE:
Es ist ja unbestreitbar, dass Sie enormen Einfluss auf die Entwicklung
der Türkei in den letzten Jahrzehnten hatten. Ohne Sie kein Erdogan,
keine Hinwendung der Türkei zu einer islamischeren Ordnung. Wie
einflussreich Sie im Hintergrund sind, das hat auch der Zwischenfall mit
der Hilfsflottille für Gaza gezeigt. Organisiert von der IHH
("Internationale Humanitäre Hilfsorganisation", die wegen ihrer
Unterstützung der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas in
Deutschland verboten ist, d. Red.), die zu der von Ihnen geschaffenen
Milli-Görüs-Bewegung gehört. Da war die ganze Türkei Feuer und Flamme.
Haben Sie die Aktion persönlich orchestriert?
Erbakan:
Organisiert hat es die IHH. Wir haben sie in ihrem Vorhaben bestärkt.
WELT ONLINE:
Ihre Freunde bei der IHH sagten mir, Erbakan sei der Einzige, der
versteht, dass Israel nur mit Gewalt niedergerungen werden kann. Ist das
wirklich Ihre Position?
Erbakan:
Israel versteht nur die Sprache der Macht. Worte reichen nicht. Man
muss Macht haben und demonstrieren, damit Israel versteht. Nicht Gewalt
anwenden, aber Macht besitzen und demonstrieren.
WELT ONLINE:
Ihr Leitmotiv ist die These einer im Geheimen funktionierenden, von
Juden und Israel gelenkten Weltordnung. Ist das wirklich Ihr Weltbild?
Erbakan:
Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des
Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken
Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen
sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol,
eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das
Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier
"offene" und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein
"Parlament der 300" und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere,
unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische
Weltordnung.
WELT ONLINE:
Sie wollen eine neue Gesellschaft schaffen und scheinen Israel als
Hebel zu sehen, um die bestehende Weltordnung aus den Angeln zu heben.
Soll Israel als Staat verschwinden?
Erbakan:
Wir werden eine neue Welt schaffen, auf der Basis von Wissenschaft und
Vernunft, auf den Grundlagen der gerechten Ordnung, die uns die Osmanen
hinterließen. Darin bekommt jeder sein Recht, auf dem ihm angemessenen
Platz. Auch den Juden und Christen würde so ihr Recht zuteil, auch sie
würden befreit.
WELT ONLINE:
Aber Israel als Staat?
Erbakan:
Israel als Staat konnte nicht gegründet werden unter den Osmanen. Wir
haben es verhindert, weil wir mächtig waren. Christen halfen den Juden
immer bei dem Versuch, einen eigenen Staat zu haben – das war das wahre
Ziel der Kreuzzüge. Denn die Juden täuschen den Christen vor, dass der
Messias zurückkehren wird, wenn der Tempel Salomons wieder errichtet
wird. Israel aber sagt, ich werde alle Zionisten sammeln in einem
Großisrael, und werde Herr sein, und ihr seid meine Sklaven. Um einer
solchen Haltung zu begegnen, muss man Macht demonstrieren.
WELT ONLINE:
Also weg mit Israel, wenn es nach Ihnen geht?
Erbakan:
Wenn die Israelis in Frieden leben wollen, wäre es vielleicht besser, wenn sie zum Beispiel in Amerika lebten.
WELT ONLINE:
Alles in allem also sollen die Türkei als führende muslimische Nation
und der Islam dem Planeten eine neue, gerechtere Ordnung geben? Das ist
doch ihr Motto: Eine Große Türkei, eine Neue Welt.
Erbakan:
Politisch und geistig groß, nicht geografisch größer als heute.
WELT ONLINE:
Und der Islam wird die beherrschende Religion des Planeten?
Erbakan:
Wir werden nur durch Kultur, Wissenschaft und Vernunft sprechen.
WELT ONLINE:
Ich bin Katholik und empfinde "westlich" und freiheitlich. Ich bin
stolz auf meine Kultur und liebe meine Religion, können Sie verstehen,
dass ich Ihre Weltsicht als Bedrohung für meine Kultur empfinde?
Erbakan:
Es liegt mir fern, einen lieben Gast zu bedrohen. Aber meine Güte und
meine Liebe für Sie gebieten mir, Ihnen die Wahrheit zu zeigen. Dafür
bräuchten Sie natürlich Zeit, um die Lehre zu verstehen.
WELT ONLINE:
Sie sagen, der Islam ist besser als meine Religion, und das verletzt mich.
Erbakan:
Vielleicht ist es umgekehrt so, dass Sie Ihre Religion als überlegen
empfinden. Wenn man schon die perfekte Wahrheit hat, warum sollte man
sich mit weniger begnügen? Sehen Sie, Ihre Religion kennt drei Götter,
ist es nicht so? Damit ist die Diskussion ja schon beendet.
WELT ONLINE:
Zurück zu Ihrem Lebenswerk. Sie haben die Türkei geprägt, aber wie sehr
hat Deutschland Sie geprägt? Sie haben dort ja lange gelebt und
gearbeitet.
Erbakan:
Ich habe da viel gelernt und viel Schönes gesehen. Ich nahm unter
anderem an einem Projekt im Auftrag von Ludwig Erhard teil. Da ging es
darum zu erfahren, wofür die Gelder des Marschall-Plans verwendet
wurden. Ich musste 15 Tage durch Deutschland reisen dafür. Der Reiseplan
war erstaunlich – jedes Detail bis hin zu Sitzordnungen geplant. Hier
in der Türkei reisen wir auch, da greift man morgens zum Telefon und
sagt, wir kommen dann heute. Also diese Ernsthaftigkeit und
Organisiertheit, davon habe ich viel gelernt. Details sind wichtig. Aber
es gab auch große Mängel in Deutschland.?
WELT ONLINE:
Zum Beispiel?
Erbakan:
Man kannte dort den Islam nicht. Ohne den Islam kann Deutschland nie
die Perfektion erreichen. Ich sagte meinen Kollegen: Ihr verlangt
Honorare für die Nutzung von Patenten. Wisst Ihr wie viel Geld Ihr dem
Islam schuldet? Ihr rechnet mit arabischen Ziffern, Algebra ist ein
arabisches Wort.
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