1. Über die Veränderungen in der Sicherheitspolitik nach Nine-Eleven (9-11) lässt sich nur sinnvoll sprechen, wenn man die 10 Jahre zuvor und die Unterschiede zu den Zeiten des Kalten Krieges mit betrachtet.
2. Es geht um Sicherheitspolitik, also um die Politik, die Regierungen machen. Ich spreche also nicht über Friedenspolitik oder meinen ganz persönlichen Standpunkt - ein pazifistisches Ceterum Censeo spielt daher nur die Rolle einer Fußnote.
3. Die hier vorgestellten Überlegungen haben den Charakter von „work in progress“. Sie sollen Denkanstöße für eine Diskussion liefern, keine abschließenden Urteile.
3. Die hier vorgestellten Überlegungen haben den Charakter von „work in progress“. Sie sollen Denkanstöße für eine Diskussion liefern, keine abschließenden Urteile.
Damit zum Thema. Lassen Sie mich am Anfang zwei Begebenheiten aus dem Jahr 2001 erzählen: Die erste Begebenheit spielt an jenem Tag, an dem die NATO wegen 9-11 den Bündnisfall erklärte. Ich war zu einer kurzfristig einberufenen Sitzung der Grünen im Bundestag – damals waren sie Regierungspartei - eingeladen, auf der die Abgeordneten ihre Position zu dieser möglichen Reaktion auf 9-11 festlegen wollten. Ich sollte meine Position darstellen. Ich warnte vor einer Ausrufung des „Bündnisfalls“ weil ich der Auffassung war
- dass die Überlegung der Bundesregierung, „bedingungslose Solidarität mit den USA“ zu zeigen und dadurch die Reaktion der USA in die multilateralen Mechanismen der NATO einzubinden, eine Illusion sei, die aus Selbstüberschätzung und vor allem aus einer Fehleinschätzung der Regierung Bush resultiere,
- dass die Regierung Bush in jedem Falle allein über ihre Reaktion entscheiden werde und
- dass niemand in der NATO wisse, wie man den Bündnisfall beende.
Im unmittelbaren Umfeld meines Statements berichtete Jürgen Trittin, die NATO habe soeben bereits den Bündnisfall beschlossen – ich empfand dies als demokratische Ohnmachtserfahrung der besonderen Art. Die zweite Begebenheit spielte wenige Wochen später: NPR, das öffentlich-rechtliche Radio der USA, bat mich um ein Interview zum Thema „Krieg gegen den Terror“ – nach meiner Erinnerung wenige Tage, nachdem Paul Wolfowitz erstmals vom „Vierten Weltkrieg“ oder dem „Weltkrieg gegen den Terror“ gesprochen hatte. An zwei meiner Aussagen erinnere ich ziemlich genau:
Erstens: Nach 9-11 wird nur wenig so sein, wie es vorher war. Diese These war zu Teilen falsch: Sicherheitspolitik wird von unseren Regierungen und Institutionen in vielen Bereichen weiter so gemacht wie vor 9-11.
Zweitens sagte ich: Ich möchte nicht wissen, wie sehr sich unsere westlichen Demokratien nach fünf Jahren Krieg gegen den Terror verändert haben werden, wie viel Verlust an individueller Freiheit, wie viel Demokratieverlust, wie viel Verlust an Achtung der Menschenrechte jetzt auf uns zukommen. Ich befürchte, dass unsere westlichen Demokratien in fünf Jahren dem Zerrbild viel ähnlicher sein werden, das islamistische Extremisten von unseren Gesellschaften schon heute haben. Die These war richtig.
Ich meine mich zu erinnern, dass ich damals auch ein deutlich verändertes Verhältnis von innerer und äußerer Sicherheit prognostizierte. Diese These hat sich ebenfalls als richtig erwiesen.
In beiden geschilderten Situationen hatte ich das Gefühl, dass es bei 9-11 um einen tiefen, prägenden Einschnitt geht, der die kommenden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in der Sicherheitspolitik prägen würde.
Trotzdem zeigt sich rückblickend, dass in der Sicherheitspolitik seit 9-11 vieles fortgesetzt wurde, das schon mit dem Ende des Kalten Krieges begonnen hatte. Daher setzt meine Analyse bei diesem Zeitpunkt an.
Folgende Entwicklungen prägten die Sicherheitspolitik der letzten 20 Jahre unter anderem:
Das Ende des Kalten Krieges führte zu großen Hoffnungen auf eine deutliche Friedensdividende und zu der Hoffnung, jetzt könne die UNO endlich die ordnungspolitische Rolle spielen, die ihr schon immer zugedacht war. Das führte bei einigen zu der Illusion, nun sei man dem ewigen Frieden deutlich näher gekommen. Somalia, die Balkankriege und Ruanda sowie die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, auf diese Konflikten adäquat zu reagieren, zerstörten einen Großteil dieser Hoffnungen so schnell wie sie aufgekommen waren. Ich betone: Ich behaupte nicht, dass dies vorrangig an der UNO lag. Es lag vor allem an den Mitgliedsstaaten, die die UNO auch nach dem Kalten Krieg nicht so unterstützten und ausstatteten, wie es notwendig gewesen wäre, damit die UNO hätte tun können, was sie tun sollte. Das zeigte sich in der kurzen Diskussion über einen ständigen Streitkräfte-Pool der UNO ebenso wie am Schicksal der „Agenda für den Frieden“. Die US-Regierung reagierte nach einem Motto, das in der NATO-Botschaft der USA kurz vor dem berüchtigten Zwischenfall in Mogadishu 1993 formuliert worden war: “With the UN, whenever possible, without it, when necessary” – das war – etwas überspitzt – bereits unter Präsident Clinton die eigentliche Geburtsstunde der Idee der „Coalitions of the Willing“.
Die Institution Militär, die Verteidigungspolitik in den großen westlichen Ländern und militärisch aktive multinationale Organisationen wie die NATO sind seit dem Ende des Kalten Krieges unablässig auf der Suche nach neuen Aufgaben, neuer Legitimation und einer neuen Rechtfertigung für ihren Ressourcenverbrauch. Dabei traten sie phasenweise in direkte Konkurrenz zu einander, wie die Geschichte der Konkurrenz um die Aufgaben der friedensunterstützenden Operationen und später der Europäischen Sicherheit und Verteidigungspolitik zwischen NATO und EU / WEU von den 90er Jahren bis kurz nach dem Jahrtausendwechsel zeigt.
Diese Suche führte zu einer deutlichen Erweiterung des Sicherheitsbegriffs und zu Erweiterungen der Aufgabenbereiche des Militärs. Um ihre Größe, ihren Haushalt und ihre Existenz zu rechtfertigen, erklärten nationale Streitkräfte und multinationale militärische Strukturen der westlichen Industrieländer selbst Einsatzformen zu einer wichtigen Aufgabe, die sie während des Kalten Krieges kaum freiwillig übernommen hätten. Diese Einsatzformen reichten von (militärisch verstandenem) „Peacekeeping“ über „Peace Building“, „Peace Making“ bis hin zum „Peace Enforcement“ und Sammelbegriffen wie den „Peace Support Operations“ einerseits bis hin zu Operationen gegen substaatliche und nicht-staatliche Gewaltakteure andererseits. Parallel dazu wurden die Begründungslinien für militärische Einsätze laufend erweitert. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden zum Beispiel Rechtfertigungen entwickelt für
- Militärisches Eingreifen in „failing states“ und „failed states“
- Militärisches Eingreifen zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Völkermord, ethnische Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sog. Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“, R2P)
- militärisches Eingreifen zur Verhinderung der Proliferation von ABC-Waffen an Staaten und nicht-staatliche Akteure
- militärisches Eingreifen zur Bekämpfung des Terrorismus und jüngst
- militärisches Eingreifen zur Abwehr nichtmilitärischer Risiken (z.B. „Cyber Warfare“ etc).
Ich sage bewusst: Rechtfertigungen und Legitimationen, nicht Rechtsgrundlagen. Nimmt man all dies zusammen, so kann mit Fug und Recht davon gesprochen werden, dass seit Ende des Kalten Krieges eine deutliche Entgrenzung des Gebrauchs des Mittels Militär stattgefunden hat. Besonders gekennzeichnet ist diese Entgrenzung von einer Aufweichung des Verbotes der militärischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Nationalstaaten, das die UN-Charta vorschreibt. Entgrenzt und flexibel interpretierbar wurden auch die Gründe gestaltet, aus denen ein militärisches Eingreifen in solchen Fällen gerechtfertigt sein könnte: Am Bespiel der Schutzverantwortung: Wann drohen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ethnische Säuberungen und wann nicht? Wer beurteilt das? Am Beispiel der Terrorbekämpfung: Wann rechtfertigt die Anwesenheit von Terroristen eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Nationalstaates und wer darf dies beurteilen? Diese Entwicklung kann man auch als Teil einer Deregulierung der internationalen Beziehungen unter Federführung der großen westlichen Demokratien bezeichnen, die letztlich das Recht des Stärkeren auf Kosten der Stärke des Rechts stärkt.
Unter welchen Rahmenbedingungen fand diese Entgrenzung statt?
Der Beginn des 21.Jahrhunderts ist von einem als Globalisierung bezeichneten, rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet, der von weiteren sicherheitspolitisch relevanten Deregulierungsprozessen begleitet wird. Diese Veränderungen finden oft unter Bedingungen statt, in denen das Recht des Stärkeren Vorrang vor der Stärkung des Rechts und seiner Wirksamkeit hat.
Die Globalisierung der Wirtschaftprozesse verstärkt durch Deregulierung vielfach soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen. Als Konsequenz der ökonomischen Deregulierung entwickeln sich rasch wachsende Konfliktpotenziale. Diese können zu Gewaltanwendung eskalieren, wenn es nicht gelingt, sie vorbeugend politisch zu regulieren. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn auf eine Stärkung des Rechts gesetzt wird.
Neben der ökonomischen ist eine sicherheitspolitische Deregulierung zu beobachten. Am deutlichsten wird diese bei Staaten, die von Zerfallsprozessen gekennzeichnet sind. Die private Kontrolle über Gewaltmittel gewinnt, das staatliche Gewaltmonopol verliert dagegen an Bedeutung. Sicherheit wird vom öffentlichen Gut, das der Staat garantiert, immer häufiger zur Ware, die von den Bürgern erworben werden muss. Der durch Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung finanziell geschwächte Staat bekommt auch im Blick auf sein sicherheitspolitisches Handlungsinstrumentarium, also den Kernbereich staatlicher Souveränität, zunehmend „private“ Konkurrenz - im Bereich der inneren wie der äußeren Sicherheit. Unterschiedlichste nichtstaatliche Akteure treten in Erscheinung: Akteure, die Sicherheit als Ware anbieten, wie z.B. Sicherheitsfirmen oder private Militärdienstleister, örtliche Akteure der Gewaltökonomie wie z.B. Privatarmeen oder bewaffnete Strukturen von Clans und örtlichen Machthabern, aber auch transnational tätige Akteure wie z.B. international agierende Terroristen, Söldner oder Akteure der Organisierten Kriminalität. Der Prozess der sicherheitspolitischen Deregulierung ist nicht auf schwache Ökonomien beschränkt, er erfasst diese nur leichter und stärker. Das immanente Krisen- und Kriegsrisiko wird deshalb dort schneller und in seiner ganzen Brutalität sichtbar.
Die Deregulierung nationaler gesellschaftlicher Ordnungen „von unten“, z.B. durch den Zerfall schwacher Ordnungen, ist zugleich nur eine Seite der Medaille. Zunehmend wird sie durch eine sicherheitspolitische Deregulierung „von oben“, also eine bewusste Schwächung von internationalen Ordnungen durch einzelne, starke Akteure ergänzt. In den vergangenen Jahren verfolgten vor allem die USA eine solche Deregulierung der internationalen Rechtsbeziehungen. Sie fand ihren Ausdruck z.B. in der Kündigung von Rüstungskontrollverträgen, der Nichteinhaltung internationaler Vereinbarungen und völkerrechtlicher Standards wie zum Beispiel den Menschenrechtsverletzungen im Namen des „Kriegs gegen der Terror“ und in der Aufweichung des Nichteinmischungsgebotes. Begleitet wurde sie von einer Entwertung internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen oder der OSZE und selbst der NATO, die ihrer Funktion als Orte internationaler Entscheidungsfindung – unter Präsident Bush – relativ weitgehend beraubt wurden. Barack Obama bemüht sich um eine partielle Rückkehr zu einem kooperativen Multilateralismus unter Führung der USA, hat aber nach acht Jahren George W. Bush die Trendwende noch nicht geschafft. Deregulierung von oben hofft darauf, mittels des Rechtes des Stärkeren neue Ordnungen, Normen und Regelsysteme besser durchsetzen zu können als mittels einer multilateralen Stärkung des Rechts. Dieser Weg findet seine Grenzen an der Begrenztheit des oder der Stärkeren. Das zeigt die Entwicklung im Irak ebenso wie der „Globale Krieg gegen den Terror“.
Schließlich ist zu fragen, ob nicht auch bereits ein Prozess der Deregulierung der natürlichen Lebensbedingungen, der ökologischen Deregulierung, begonnen hat, wodurch Debatten wie die über Klimawandel und Klimakatastrophe oder die Zukunft der globalen Trinkwasser-, Lebensmittel- oder Energieversorgung sicherheitspolitisch relevant wurden. Auch hier schlummern erhebliche Konfliktpotenziale.
Für Deutschland und Europa bedeuten diese Entwicklungen ein radikal verändertes sicherheitspolitisches Risikoumfeld. Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler Territorien gegen einen staatlich geführten, militärischen Angriff von außen sind relativ unwahrscheinlich geworden. Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht heute ein solcher Angriff durch einen Staat oder eine Staatenkoalition, der erfolgversprechend sein könnte. Selbst früher militärisch potente potenzielle Kontrahenten wie Russland haben heute ein überwiegendes, genuines Eigeninteresse an sicherheitspolitischer Kooperation, da sie von Kooperation profitieren, bei Konfrontation aber viel zu verlieren hätten.
Deshalb hat sich die Debatte über die Zukunftsaufgaben von Militär- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend auf sicherheitspolitische Risiken anderer Art konzentriert. Neben Regionalkonflikten mit potenziellen Rückwirkungen auf Europa wird vier sicherheitspolitischen Risikokategorien und möglichen Kombinationen aus ihnen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Diese sind
- Risiken, die sich im weitesten Sinne aus Staatszerfall und der teilweisen Aneignung von Funktionen des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure ergeben können;
- Risiken, die sich aus dem Handeln nichtstaatlicher, transnational tätiger, bewaffneter Akteure, wie z.B. Terroristen, religiöser Extremisten oder auch transnationaler wirtschaftlicher Akteure wie der Organisierten Kriminalität und transnationaler Konzerne ergeben können;
- Risiken, die aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche oder nicht-staatliche Akteure erwachsen können, da diesen Waffen ein außergewöhnlich großes Schadenspotenzial zu eigen ist;
- schließlich – deutlich seltener genannt - Risiken, die sich aus dem globalen Klimawandel (und damit auch aus der Energiepolitik), aus Ressourcenkonflikten, z.B. um Trinkwasser, aus der wachsenden Bedeutung von Schattenökonomien oder künftigen Migrationsströmen ergeben können.
Diese sicherheitspolitischen Risiken werden hinsichtlich ihres Potenzials, eine „akute“ Bedrohung darzustellen, sehr unterschiedlich bewertet. In den USA wird den Risiken „Terrorismus“ und „Proliferation“ bzw. der Kombination aus beiden eine Bedrohlichkeit zugeschrieben, die der Bedrohung staatlicher Existenz während des Kalten Krieges ähnelt. Deshalb kommt ihnen allerhöchste Priorität zu. Militärisches Handeln – ob reaktiv oder präventiv – wird damit zu einem unausweichlich erscheinenden dringlichen Erfordernis.
In Europa werden diese Risiken oft ähnlich wie Restrisiken bewertet, die industrialisierten Gesellschaften als Verwundbarkeit immanent sind. Das Kernkraftwerk und der GAU oder Super-GAU, der trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht völlig ausgeschlossen werden kann, stehen Pate. Diese Bewertung hält es für angebracht, in einem gewissen Umfang Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, aber für falsch, alles daran zu setzen, Risiken militärisch zu eliminieren, die man nicht militärisch eliminieren kann.
Übertreibt die erste Risikoperzeption, so könnte die zweite untertreiben. Zwar können die genannten Risiken die staatliche Existenz westlicher Industrienationen nicht unmittelbar gefährden. Sie können aber die staatliche Handlungsfreiheit, die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit und die Fähigkeit, Weltordnung im Sinne einer Friedensordnung zu gestalten, deutlich einschränken.
Wenn allerdings ein starker Akteur wie die USA auf Basis der ersten Sichtweise massiv militärisch agiert, kann das auch dazu führen, dass die Risiken rasch wachsen und seine Sichtweise des Konfliktes als substantielle oder gar existentielle Bedrohung den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung annimmt. Das Vorgehen der USA im Rahmen des „Krieges gegen den Terror“ und im Nahen und Mittleren Osten wies diese Tendenz unter George W. Bush auf. Es deutete zugleich an, welche weiteren Eskalationsrisiken damit verbunden sind. Unter George W. Bush war von der Notwendigkeit einer „vierten Generation der Kriegführung“, von einem Vierten Weltkrieg die Rede, der über Jahrzehnte zu führen und zu gewinnen sei. Wäre eine solche Entwicklung ungebrochen weitergegangen, so hätte sie sich zu einer eigenständigen Risikokategorie oder gar zu einer Bedrohung neben den bereits genannten entwickeln können.
Im Kern aber stellen alle o.g. Hauptrisiken keine Gefahr für den Ausbruch eines klassischen Krieges dar, sondern stattdessen für unterschiedlichste Formen einer gewaltförmigen und oft langwierigen Auseinandersetzung zwischen ungleich gerüsteten Gegnern. Gemeinsam ist ihnen zudem, dass
- kein Staat alleine und mit nationalen Mitteln für seine Bürger vollständige Sicherheit gegen diese Risiken gewährleisten kann;
- diesen Risiken aufgrund ihres transnationalen Charakters nicht ausschließlich mit Maßnahmen innerhalb eines einzelnen nationalen Territoriums begegnet werden kann;
- hundertprozentige Sicherheit weder möglich noch – wegen der demokratie-gefährdenden, innenpolitisch-autoritären Nebeneffekte – für einen demokratischen Rechtsstaat wirklich erstrebenswert sein kann;
- diese Risiken nur eingehegt und eingedämmt, kaum aber vollständig eliminiert werden können;
- militärische Mittel bestenfalls in sehr begrenztem Maße und auf keinen Fall alleine in der Lage sind, diese Risiken einzudämmen;
- etliche dieser Risiken Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit in neuer Weise mit einander verbinden;
- bestmögliche Sicherheit in multilateraler Kooperation auf Basis internationaler Rechtsgrundlagen und mittels eines ressortübergreifenden Ansatzes erzielt werden kann und
- diesen Risiken am besten präventiv und nicht reaktiv begegnet werden kann.
In den westlichen Gesellschaften wächst derzeit das Bewusstsein der eigenen strukturellen Verwundbarkeit angesichts dieser asymmetrischer Risiken und Gewaltformen. Ihnen wird deutlich, dass die globalen Veränderungen, von denen sie wirtschaftlich und politisch profitieren, diese Risiken mit verursachen und sogar verstärken. Deutlich wird, dass multinationale oder sogar globale Antworten zur Sicherheitsvorsorge notwendig sind, Antworten, die nur erfolgversprechend entwickelt und umgesetzt werden können, wenn unterschiedlichste staatliche Handlungs- und Steuerungsinstrumente verzahnt und integriert werden, und wenn neue Formen zwischenstaatlicher und multilateraler Kooperation eingegangen bzw. vorhandene Kooperationsformen und –institutionen gestärkt werden. Damit bekommen Außenpolitik, Wirtschaft- und Außenhandelspolitik, Entwicklungspolitik und Rüstungskontrolle eine neue sicherheitspolitische Bedeutung. Der Militärpolitik kommt dabei im Kern die Rolle einer Rückversicherung gegen Erpressungsversuche und damit eines letzten Mittels zu. Man könnte diese ordnungspolitische Aufgabe auch als Reregulierung oder Neuregulierung der internationalen Beziehungen in einem veränderten globalen Umfeld bezeichnen.
Die politische Aufgabe, Weltordnung zu gestalten, kann zugleich nur mithilfe eines möglichst effizienten Multilateralismus und kooperativer Multipolarität erfolgversprechend angegangen werden. Internationale Institutionen müssen an neue Aufgabenstellungen angepasst und deutlich in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Dies aber geht nur, wenn deren Mitglieder diesen Prozess befördern und im Rahmen ihrer nationalen Politik aktiv zu einem effizienten Multilateralismus beitragen. Auch eine Stärkung kooperativer Multipolarität kann einen wesentlichen Beitrag leisten. Sie ist im globalen und oft sogar im regionalen Maßstab ohne die USA, Europa, Japan, Russland, Indien, China oder Brasilien nicht denkbar.
Von einer diesen Anforderungen auch nur annähernd gerecht werdenden Sicherheitspolitik der Regierungen kann derzeit jedoch nicht die Rede sein. Das zeigte sich bereits an meinem Argument, das eine Tendenz zur Entgrenzung des Einsatzes des Mittels Militär zu beobachten ist. Mehr noch: Man kann im Blick auf die wiederholten Versuche, Einmischungen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten zu rechtfertigen, auch von einer Entgrenzung der Legitimation militärischen Eingreifens und kriegerischen Handelns sprechen. Ob man Bemühungen etlicher westlicher Staaten, auch die Vereinten Nationen in diese Versuche einzubinden und Mandate für solche Operationen zu bekommen, als Teil der Entgrenzung oder als Versuch einer Neugestaltung internationalen Rechtsgrundlagen betrachtet, ist eine Frage des politischen und moralischen Standpunktes des Betrachters. Das zeigt die Debatte über die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft.
Eine Anmerkung zur deutschen Sicherheitspolitik
Seit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik war deutsche Sicherheitspolitik wesentlich durch die Außenanforderungen an sie bestimmt. Adenauer wollte die Bundesrepublik durch die Westintegration möglichst schnell zu einem gleichberechtigten Staat in der westlichen Gemeinschaft machen. Deshalb durfte weder der Eindruck entstehen, die Bundesrepublik beschreite Sonderwege, noch durfte ein ausdrückliches nationales Interesse in Konkurrenz zur den nationalen Interessen der anderen westlichen Mächte formuliert werden. Außenanforderungen während des Kalten Krieges waren zum Beispiel:
- Deutschland soll im Rahmen des internationalen Rechtes agieren
- Der Platz der Bundeswehr ist Deutschland und Europa (plus Solidarität an den Flanken der NATO)
- Angriffskriege sind absolut unzulässig
- Deutschland soll seine Interessen über die und in den multinationalen Institutionen vertreten
- Zur Demokratieabsicherung gilt eine strenge Trennung von innerer und äußerer Sicherheit.
Heute lauten die Anforderungen interessanterweise meist genau gegenteilig:
- Deutschland soll an (Interventions)Einsätzen teilnehmen – notfalls auch ohne UN-Mandat, also gegen internationales Recht.
- Deutschland soll sich weltweit militärisch engagieren.
- Auch Angriffskriege müssen notfalls sein (Kosovo war streng betrachtet rechtlich ein solcher).
- Deutschland soll endlich Farbe bekennen, d.h. seine nationalen Interessen benennen.
- Asymmetrische Risiken können zu einer Aufhebung der strikten Trennung von innerer und äußerer Sicherheit zwingen.
Das Verhalten der deutschen Sicherheitspolitik blieb trotz dieser umgekehrten Erwartungshaltung aber weitgehend den Mustern des Kalten Krieges treu: Deutschland muss mitmachen können, um mit entscheiden zu können – so lautet die Maxime – damals wie heute. Damals bezog dieses Argument sich im Wesentlichen auf die Nuklearabschreckung und die Nukleare Teilhabe; heute bezieht es sich auf die Fähigkeit zu weltweiten militärischen Einsätzen und residual immer noch auf die nukleare Teilhabe. Zudem gilt weiter: Deutschland bringt seine Interessen im multilateralen Rahmen, also über die multinationalen Institutionen zur Geltung.
Das ist verständlich, vor allem aber auch politisch bequem: Die innenpolitische Darstellung einer Entscheidung für einen militärischen Einsatz als Außenanforderung, als multinationale oder internationale Aktion, an der man sich solidarisch beteiligen muss, enthebt die deutsche Politik der Notwendigkeit einer sauberen Begründung gegenüber der eigenen Bevölkerung und sogar manchmal im Blick auf das Völkerrecht. Ein Abschieben politischer Teilverantwortungen auf die multilaterale Ebene wird möglich. Solidarität mit den Partnern kann innenpolitisch verkauft werden. Man konnte sich nicht entziehen, obwohl man in bestimmten Punkten die Meinung der Kritiker eines solchen Einsatzes sogar teilt. Etwas boshaft: Hier handelt es sich um eine deutsche – oft auch noch moralisch und humanitär begründete – Variante der Entgrenzung des Gebrauchs des Mittels Militär. Also eines Haupttrends der sicherheitspolitischen Entwicklung des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Ausblick und Schlussbemerkungen
Zum Schluss möchte ich noch einige Punkte benennen, die aus meiner Sicht in der Debatte über die künftige Sicherheitspolitik nicht fehlen dürfen. Zu Teilen sind es Fragen.
- Erstens: Die aktuelle Diskussion um Libyen macht deutlich, dass wir vor einer Weichenstellung stehen: Der Militäreinsatz des Westens gegen Libyen wird mit dem Konzept der „Responsibility to Protect“ (R2P) begründet und weicht das Prinzip der Nichteinmischung weiter auf. Es ist ein Präzedenzfall. Das wirft die Frage auf, ob das Konzept der R2P infragegestellt werden muss oder ob das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung auf längere Sicht weiter aufgeweicht und damit letztlich infragegestellt werden wird.
- Der Umgang herrschender Politik mit diesem Konzept war bisher – der Streit in der NATO zeigte es - primär ein taktischer, frühe Bedenken gegen den Ansatz bewahrheiten sich: Es wird von den westlichen Demokratien nicht immer dann umgesetzt, wenn es nötig wäre, sondern nur, wenn es opportun scheint und militärisch handlungsfähige Staaten bereit oder interessiert sind, militärisch einzugreifen. Es wird nicht präventiv und zivil, sondern reaktiv und militärisch gehandelt. Intensive westliche diplomatische Bemühungen um eine präventive nicht-militärische Lösung der heraufziehenden Krise? Fehlanzeige. So kann die R2P keine Glaubwürdigkeit gewinnen, die Voraussetzung für eine universelle Akzeptanz wäre. Stattdessen verstärkt die konkrete Anwendung des Konzeptes eher die Wahrnehmung einer Doppelmoral westlicher menschenrechtsorientierter Sicherheitspolitik und lässt es zur opportunistischen Legitimation einzelner gewollter Interventionen verkommen.
- Zweitens: Welche Veränderungen in der Sicherheitspolitik kommen nach dem Afghanistan-Einsatz? Egal, ob der Westen gehen muss oder ob er - gesichtswahrender - gehen will: Welche Themen stehen anschließend im Vordergrund europäischer und deutscher Sicherheitspolitik?
- Drittens: Was passiert mit der NATO nach Afghanistan und Libyen? Sie bewegt sich schon jetzt auf einem Pfad schleichenden Bedeutungsverlustes. Ihre inneren Widersprüche (Verhältnis zu Russland, künftige Erweiterungen, Nuklearwaffen, R2P etc) wachsen und werden es für die USA und Europa tendenziell schwerer machen, dauerhaft an einem Strick zu ziehen.
- Was passiert viertens mit der EU bzw. der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Nach den Ost-Erweiterungen trägt sie zu Teilen dieselben Widersprüche in sich wie die NATO. Die Entwicklung einer gemeinsamen Außen und Verteidigungspolitik stagniert und ist zum Teil durch das Primat der NATO blockiert.
- Wie kann erreicht werden, dass militärische Institutionen mit einem klaren Fokus auf den Schutz der Politik vor Erpressung über Sicherheitspolitik diskutieren, also sich selbst als letztes Mittel verstehen, statt primär nach jedem Strohhalm einer neuen Aufgabe zu suchen und zu greifen? Hierin liegt ja auch eine Ursache der Entgrenzung des Mittels Militär.
- Wie lässt sich die weitere Deregulierung der internationalen Beziehungen aufhalten und eine Re- oder Neuverregelung internationaler Beziehungen erreichen, die den Anforderungen der Globalisierung gerecht werden kann? Was heißt heute konstruktiver Multilateralismus und kooperative Multipolarität? Wie und wer und wie kann man sie implementieren?
Mit diesen Fragen hoffe ich genügend Anregung für eine spannende Diskussion gegeben zu haben, die auch mir hilft, meine „work in progress“ ein wenig weiterzutreiben.
von Otfried Nassauer
Quelle: Bund für Soziale Verteidigung
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